Menschen

Kapitel 28Ein humanes Panoptikum

So. Nach ein paar Wochen Buenos Aires haben wir einige Menschen beobachtet, getroffen und erlebt. Das ist es, was Reisen so besonders macht – die anderen Verhaltensweisen. Die neuen Codes. Die anderen Worte. Die ungewohnten Ansichten.

Während Europa zunehmend seine Verhaltenseleganz verliert, trifft man in Buenos Aires noch häufig auf erlesene Umgangsformen. An der Bushaltestelle bildet sich eine Schlange und auch am Bahnsteig sind Stellen am Boden markiert. Genau dort wird sich später die Zugtüre befinden und genau dort wird ordentlich angestanden. Als Frau bekommt man überraschend oft Vortritt und wer suchend schaut, bald Hilfe angeboten.

In den vergangenen Wochen war keine Antwort auf unsere bestimmt nicht immer korrekt gestellten Fragen ungehalten oder ungeduldig. Zwar dauert hier manches ein bisschen länger – bis das Essen kommt oder die Rechnung, aber es steht kein Unmut in der Luft oder gar Aggression.

Man kleidet sich elegant, zumindest im Rahmen seiner Möglichkeiten, und nimmt sich gerne Zeit für einen kurzen Plausch.

Die Gemüsefrau lässt den einen Peso einfach nach und sagt: „Den gibst du mir eben nächstes Mal, amiga“. Die Putzfrau sagt am Telefon zwar zu, am nächsten Tag zu kommen, kommt dann aber doch nicht. Seither putzen die Entdecker wieder selbst. Oder verschieben es auf den nächsten Tag, recht argentinisch…

Eine deutsche Tanzbegeisterte kauft sich kurzerhand eine Wohnung in Buenos Aires und renoviert die sichtbar schlechte Bausubstanz Stück für Stück selbst. Zwischendurch sitzt sie auf ihrer Dachterrasse und ruft nach ihrer Katze, die eine harte Kindheit in einem Armenviertel hinter sich hat.

Sie bereitet für uns Mate, dieses merkwürdig-bittere Nationalgetränk und übt Bandoneon. Sogar die Tonleiter klingt für das Entdeckerei-Ohr wunderbar, aber der Nachbar schließt hörbar das Fenster.

Die Frau im Café an der Ecke bittet um >Tausend Entschuldigungen<, nur weil sie den bestellten Cafecito vergessen hat und nennt die geduldige Koffeinfreundin aus dem Ausland >mi cielo<, mein Himmel.

Zwar ist es anscheinend keine gute Idee, die Busfahrer zu bitten, einem die Ausstiegs-Station anzusagen, aber Umsitzende helfen gerne weiter. Reicht die verbleibende Anzahl von Haltestellen noch für einen Plausch, hört man von in England lebenden Kindern und es werden mit leuchtenden Augen die Namen besuchter europäischer Städte aufgezählt.

Im Garten-Café eines Museums erkundigt sich die Kellnerin, woher man sei. Zum bestellten Getränk bringt sie eine kleine Kostprobe der hauseigenen Schokotorte und meint, diese sei mindestens so gut wie die Torten aus >Viena<. Der argentinische Stolz kombiniert mit ausgezeichneten Geographie-Kenntnissen ist eine verlockende Mischung.

Im Kulturzentrum Torquato Tasso sitzt einer der großen Tangomusiker auf der Bühne wie ein schlecht gelaunter Dalai Lama – aber spielt göttlich. Vor einer späten Milonga hält einer der großen Tangotänzer einen Workshop und fegt mit seinen 76 Jahren locker Jüngere vom Parkett. El flaco Dany (der dürre Dany) muss nichts mehr beweisen, doch er hat sichtbar Freude daran, seine flinken Schritte Interessierten zu zeigen. >Elegancia!<, fordert Dany und macht sie vor, so mühelos und leicht.

Und dann, als die Entdecker erschöpft vom Üben bei einem Glas Tinto am Rand sitzen und der entstehenden Milonga zusehen, kommt Willem Dafoe. Die Aufregung über den Besuch des US-Schauspielers war bereits seit einer Stunde zu spüren. Der Veranstalter war ganz aus dem Häuschen, aber hat uns trotzdem einen guten Platz im Saal gegeben. So konnten wir sehen, wie alle Welt auf Willem schaut. Erleben, wie gut es ist, einfach nur auf einer Milonga zu sitzen. Beobachten zu dürfen, statt begafft zu werden und so ganz in Ruhe einfach niemand zu sein…

 

… mit argentinischen Gegensätzen geht’s hier weiter…